In der Automobilbranche führen immer neue Produkteinführungen und Facelifts zu einem stetigen Anstieg der Bauteilvarianten bei deutlich verkürzten wirtschaftlich relevanten Produktionsphasen. Ein hochautomatisierter und digital durchgängiger Formenbau ist hier gefragt.
Um die notwendige Ersatzteilversorgung für Produktlebenszyklen von 25 bis 30 Jahren zu gewährleisten, werden Spritzgusswerkzeuge und Formeinsätze für gewöhnlich auf Lager gelegt. So stehen sie im Bedarfsfall schnell zur Verfügung. Die dadurch verursachten Lagerhaltungskosten müssen jedoch im Vorhinein mitkalkuliert werden. Und auch der Automobilhersteller trägt dabei ein Risiko, denn er muss darauf vertrauen, dass das Zulieferunternehmen über diesen langen Zeitraum fortbesteht.
Einen entscheidenden Vorteil könnte ein hochautomatisierter und digital durchgängiger Formenbau bieten, der speziell für kleine Losgrößen optimiert ist. Aluminium-Formeinsätze lassen sich kurzfristig und günstig aus der digitalen Repräsentanz des Werkstücks und der Form fertigen, wenn eine durchgängige CAD/CAM/CAQ-Prozesskette existiert. Aluminium besitzt zwar nicht dieselben Werkstoffeigenschaften wie Stahl bei herkömmlichen Formeinsätzen, es ist aber für viele Anwendungen und vor allem für kleinere Stückzahlen durchaus geeignet. Die Hochpräzisionszerspanung ermöglicht es, Oberflächengüten in Polierqualität „maschinefallend“ zu realisieren und das Härten sowie das anschließende Superfinishing entfallen dabei.
Das Institut für Fertigungstechnik und Photonische Technologien (IFT) der TU Wien arbeitet bereits seit 2019 mit einem führenden Hersteller von Spritzgießmaschinen in einer Forschungskooperation. Gemeinsam versuchen sie, eine datendurchgängige CAD/CAM/CAQ-Prozesskette aufzubauen und die Vorteile der digitalisierten Produktund Fertigungsinformationen (PMI), die sowohl menschen- als auch maschinenlesbar sind, zu nutzen.
Die Erstellung eines CAM-Programmes setzt viel Wissen und enorme Datenmengen aus verschiedensten Bereichen voraus. Das Know-how und die Erfahrung der einzelnen Mitarbeiter können jedoch stark variieren. So erhält man oft unterschiedlichste Lösungsmöglichkeiten, was sich signifikant auf die kostenintensive Arbeitsplanung bzw. Steuerprogrammerstellung auswirken kann.
Abhilfe kann auch hier die Digitalisierung aller erforderlichen Produkt- und Fertigungsinformationen schaffen. Mit den beiden Schlüsseltechnologien ModelBased-Definition (MBD) und FeatureTechnologie (FT) lassen sich Prozesse aus der Fertigung und Qualitätsprüfung standardisieren. Durch die maschinen- und menschenlesbaren PMI ist es möglich, Best-Practice-Bearbeitungs- und auch Messprozesse in einer Regelbibliothek zu hinterlegen und die kostenintensive Steuerprogrammerstellung zu automatisieren.
Die Digitalisierung der PMI bietet außerdem noch einen weiteren Vorteil: Durch Definition der Qualitäts- und Kostenstandards wird bereits im Vorfeld eine präzise Kalkulation in der Arbeitsplanung möglich. Die Herstellungskosten sind nicht nur schon während der Konstruktionsphase bekannt – sie sind auch signifikant niedriger.
Die Software zur automatisierten Steuerungsprogrammerstellung läuft dabei entweder als Cloud-Dienst oder auf einem Edge-System. Um die Verknüpfung zwischen derartigen Softwareservices und den tatsächlichen Fertigungssystemen zu schaffen, werden durchgängige Softwareschnittstellen und standardisierte austauschbare Datenmodelle benötigt. Cloud-Server und Edge-Geräte bilden gemeinsam eine verteilte Infrastruktur, die aber unabhängig von deren physischem Standort und Betreiber die Verfügbarkeit und Datensicherheit gewährleisten muss. Denn besonders für produzierende Unternehmen spielt es eine zentrale Rolle, wie mit sensiblen Daten umgegangen wird.
Das binationale Forschungsprojekt EuProGigant (Europäisches Produktionsgiganet zur kalamitätsmindernden Selbstorchestrierung von Wertschöpfungs- und Lernökosystemen) bearbeitet zentrale Fragestellungen zum Thema „Smarte und souveräne Nutzung von Daten für die Produktion“. Ziel ist die Demonstration und Skalierung eines standortübergreifenden, digital vernetzten Produktionsökosystems mit resilienter, datengetriebener und nachhaltiger Wertschöpfung zur Stärkung der europäischen Vorreiterrolle in der Industrie.
Konkret soll EuProGigant den technologischen und ökonomischen Nutzen der offenen, europäischen Multi-Cloud-Infrastruktur Gaia-X verdeutlichen und aufzeigen, wie eine hoch vernetzte Produktion mit sich selbst organisierenden und stabilisierenden Eigenschaften ausgestattet werden kann. Dank souveränem Datenund Informationsaustausch innerhalb eines gemeinsamen Datenökosystems wird eine nachhaltige und resiliente Produktion zur Realität.
Das binationale Leitprojekt EuProGigant wird vom österreichischen Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) und vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit rund 5 Mio. EUR gefördert. 16 Projektpartner aus Österreich und Deutschland sind an der Ausführung, Entwicklung und Implementierung des Projekts beteiligt. Projektleiter sind die TU Wien und die TU Darmstadt. Unterstützt werden sie vom projektbegleitenden Industrieausschuss, dem Generationenbeirat und dem Wissenschaftlichen Beirat. Projektlaufzeit: 4 Jahre |